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Was ist eigentlich schwerer, ein Kilogramm Blei oder ein Kilogramm Federn?

von Klaus Kohl

Wer kennt sie nicht, diese Scherzfrage?
Intuitiv will man sagen 'das Blei' und weiß doch, dass es eine Scherzfrage ist, beides gleich schwer ist.
Man weiß es eben, aber stimmt es auch?

Am 3. Dezember 1996 wäre Martin Wagenschein 100 Jahre alt geworden, er starb vor acht Jahren. Ehrendoktor, mehrfacher Preisträger, wurde und wird er verehrt, interpretiert, missverstanden, beschimpft.
Jahrzehntelang hat er bis ins hohe Alter darum gekämpft, besonders den Mathematik- und Physikunterricht verständlicher zu gestalten, von Scheinwissen zu entrümpeln: "Verstehen des Verstehbaren ist ein Menschenrecht" - "Verstehen lehren" - "Rettet die Phänomene" waren häufig Titel und Inhalt seiner zahlreichen Vorträge und Veröffentlichungen. In seinen Seminarien zur Lehrerbildung pflegte er einzelne Themen, wie die Sechseck-Konstruktion im Kreis, die Kugelgestalt der Erde, das Ansaugen der Limonade im Strohhalm, von der scheinbar selbst-verständlichen Gewohntheit zur Frage, ja zum vertrackten Problem und dann zur eigenen selbst-sicheren Erkenntnis zu führen. Seine Leitlinien der Pädagogik hat er meist mit den Stichworten genetisch-sokratisch-exemplarisch markiert.

Die folgende "Miniatur" geschah - so kann ich es nur bezeichnen - an der Ecole d'Humanité in Goldern (Schweiz) mit einer Gruppe von fünf Schülern (15-16-jährig). Sie ist mit ihrem Frage-Antwort-Spiel von mir bewusst in der stichelnden Frageform des von Platon beschriebenen Sokrates gehalten (z.B. Menon - ein unwissender Sklave erkennt die Methode zur Verdoppelung des Quadrates; schon früh eins der Lieblingsthemen Wagenscheins).
Gleichwohl ist sie kein "Wagenschein-Stück". Erstens war diese sophistische Frage kein Gegenstand für ihn, zweitens hätte er als Lehrer viel weniger geredet (!). Als später Dank an ihn von einem seiner Gastschüler mag sie herhalten.

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Lehrer: Was ist eigentlich schwerer, ein Kilogramm Blei oder ein Kilogramm Federn?

Schüler: Ein Kilo ist ein Kilo!

L: Das stimmt.

S: Die Federn brauchen nur mehr Platz.

L: Ja, das stimmt auch.

S: Das Blei fühlt sich schwerer an.

L: Ja, aber das meine ich nicht. Ist es gleich schwer, wiegt es dasselbe?

S: Ausprobieren!

L: Wie?

S: Wir nehmen 1 Kilo Blei und 1 Kilo Federn ... (?) ----

L: ---

S: (Kissenschlachten in Gedanken, schöpferisches Chaos, das im Schweigen versinkt)

L: Machen wir es etwas handlicher, nehmen wir Holz statt Federn. Ist ein Kilo Blei so schwer wie ein Kilo Holz? (Er ist so frei, wie die Schüler, auch gelegentlich Kilo statt Kilogramm zu sagen.)

S: Logo!

L: Und ein Kilo Blei so schwer wie ein Kilogramm Stein?

S: Ja natürlich.

L: Ausprobieren!

- Er hat sich einen Stein und einen Bleiklotz mit praktisch gleicher Masse besorgt, - dass beide nur ungefähr 1 kg Masse haben, ist unerheblich - und legt sie gegenüber auf die Tafelwaage. -

S: Sehen Sie!

L: Nimm sie in die Hand, sind sie gleich schwer?

S: Ja.

L: Und jetzt tauche beide Hände ins Wasser - sind sie gleich schwer?

S: Nein, jetzt ist der Stein leichter als das Blei.

L: Siehst Du!

S: Ja, im Wasser, da ists anders. - Holz wiegt im Wasser gar nichts, das geht sogar nach oben. Wie ein Luftballon!

L: Warum?

S: Weil es leichter ist als Wasser.

L: Und der Stein?

S: Ist schwerer als Wasser, und Blei ist noch schwerer.

L: Denkt dran, von allem ist es ein Kilogramm.

S: Aber sie sind verschieden groß. - Die Dichte ist anders. - Der Auftrieb macht den Stein und das Holz leichter. - Das Blei auch, aber ganz wenig.

L: Und draußen?

S: Gibt es keinen Auftrieb.

L: Und der Luftballon?

S: Ach so...

L: Wenn ich einen Luftballon, oder besser eine leere Plastiktüte mit Luft aufblase, wird sie dann schwerer?

S: Nein.

L: Ist in der vollen Plastiktüte mehr drin als in der leeren?

S: (Gelächter)

L: Hat also die volle Plastiktüte eine größere Masse als die leere?

S: Ja, ein paar Gramm schon. - Das kann man aber nicht wiegen. - Doch, wo es keine Luft hat. - Wasser wiegt im Wasser auch nichts. - Dann platzt aber die Tüte! (Gemeint ist die luftgefüllte Tüte im Vakuum).

L: Was ist schwerer, ein Gramm Blei oder ein Gramm Luft?

S: Die Luft wiegt ja nichts.

L: Was ist schwerer, 10 Gramm Blei oder 10 Gramm Styropor?

S: Im Styropor ist Luft? - Ja. - Ich weiß nicht. - Ist doch egal.

L: Wieso egal?

S: Die Luft wiegt ja nichts. - Wie wollen Sie das Styropor dann überhaupt richtig wiegen? - Ohne Luft. - Wie willst du denn da die Luft rauslassen? - Nein, ich meine im Vakuum. - Verjagts die dann nicht?

L: Ausprobieren!

- Eine Styroporkugel von ca. 10 cm Durchmesser wird unter die Glasglocke der Luftpumpe gelegt. Dann wird das Glas luftleer gepumpt, die heimlich erwartete Katastrophe bleibt aus. -

S: Können Sie die wiegen?

L: Im Vakuum?

S: Ja. - Aber dann auch in der Luft.

- Der Versuch wird mit einer kleinen Schalenwaage, klein genug, um unter die Glasglocke zu passen, groß genug, die Kugel aufzunehmen, durchgeführt. -

L: Und was gilt jetzt? Macht es das Vakuum schwerer oder die Luft leichter?

S: Vakuum ist nichts, kann nichts machen! - Im Wasser stimmts nicht, also kann es in der Luft auch nicht stimmen. - Jedenfalls nicht genau.

L: Was ist also schwerer, ein Kilogramm Blei oder ein Kilogramm Federn?

S: Das Blei, denn es hat weniger Auftrieb in der Luft.

L: Seid Ihr sicher?

S: Doch. - Logo, wir leben ja nicht auf dem Mond!

L: Dann fragt mal zuhause eure Eltern, was sie meinen!

S: Au ja!

Man sieht, eine solche Unterrichtssituation kann sich nur ergeben, wenn die Schüler schon einiges wissen. Über Masse und Gewicht muss schon ausführlich gearbeitet worden sein. Den Auftrieb, zumindest in Flüssigkeiten, müssen sie kennen. Dass Luft eine Masse hat, muss ihnen auch bekannt sein, ebenso die Ohnmacht des Vakuums (Vakuum ist nichts, kann nichts machen!). Dieses Beispiel ist also nicht geeignet, den Unterschied zwischen der Masse und ihrem Gewicht einzuführen, aber dazu, ihn endlich besser zu begreifen. Dass je nach vorhandenem Material (z.B. empfindliche Federwaage) und den spontanen Antworten der Schüler ein anderer Gesprächsverlauf zum Ziel führen muss, versteht sich von selbst. Sicher aber sind derlei Sequenzen in der Sekundarstufe I genauso möglich (und nötig!) wie kurz vor dem Abitur.
Und in einem Physik-Seminar? - Ausprobieren!

Veröffentlicht zum 100. Geburtstag von Martin Wagenschein in:
Physik in der Schule 34 (1996)12 S. 429-430
Pädagogischer Zeitschriftenverlag, Berlin